Herr Prof. Puchan, Sie sind seit Jahren ein bekannter Prozessexperte und lehren an der Hochschule München „Informatik-Management und Informatik in der Wirtschaft“.
Was begeistert Sie an Prozessthemen und was ist Ihr Antrieb sich so intensiv mit Digitalisierungsstrategien und Reifegradmodellen zu beschäftigen?
Jörg Puchan: „Seit meinen ersten beruflichen Stationen bei einem großen Finanzdienstleister und in der Beratung erlebe ich die Vorteile effektiver und effizienter Prozessorganisation und die Hemmnisse, die schlechte Prozesse mit sich bringen. Leider haben es manche Unternehmen verpasst und verpassen es auch heute noch, die Einführung von IT-gestützten Lösungen gleichzeitig zur Optimierung der Prozesse zu nutzen. Man muss sich dann nicht wundern, dass die Nachkalkulation eher eine Kostensteigerung ergibt. Den Ist-Zustand zu „elektrifizieren“ ist das Schlimmste, denn dann ist er förmlich in Beton (also eigentlich in Software) gegossen und wird erst wieder beim nächsten großen Release angepackt.
Eine Digitalisierungsstrategie muss daher von Beginn an den Zweck des Unternehmens, das Geschäftsmodell und die integrierte Strategie berücksichtigen. Das beinhaltet auch die Sicherstellung der Durchgängigkeit von der Strategie über die Prozesse bis zur Klärung der konkreten Tools und Funktionen, die von der IT vollautomatisch, teilautomatisch oder unterstützend umzusetzen sind. Diese komplexen Zusammenhänge und die umfassende Betrachtung von Unternehmen faszinieren und motivieren mich.
Welche konkreten Schritte und Elemente sind für Sie zwingend Bestandteil einer erfolgreichen Digitalisierungsstrategie?
Jörg Puchan: Zu einer Digitalisierungsstrategie gehört für mich zunächst die schonungslose, unverbrämte Analyse des Ist-Zustands von Hardware, Netzen, Systemen, Funktionen und Services und auch des Personals. Dann die klare Formulierung des Soll-Zustands, abgeleitet aus der Strategie und dem Geschäftsmodell.
Zwischen dem Soll und dem Ist klaffen in der Regel Lücken und die sind nun durch ein strukturiertes Vorgehen zu schließen. Hier muss die Digitalisierungsstrategie Antworten geben auf alle Aspekte. Das beginnt bei den zu digitalisierenden Prozessen, Produkten und geht bis hin zur Software-, Daten- und Systemarchitektur. Querschnittsthemen wie z.B. Personal, Finanzierung oder Sicherheit kommen noch dazu. Zusammenfassend ergibt sich daraus die hohe Bedeutung des Prozessmanagements als Strukturelement und Bindeglied:
„Process follows strategy – und die weiteren Aspekte folgen den Prozessen.“
Das Digitalisierungsziel wird nicht an einem Tag erreicht. In Schritten werden die Ergebnisse erzielt und geprüft – „messen oder vergessen“ gilt auch hier. Messen bedeutet vergleichen und zum Vergleichen benötigt man ein Referenzmaß, das durch das Reifegradmodell dargestellt werden kann. So nähert man sich schrittweise und gezielt dem gewünschten Zustand und der Erfolg oder die Abweichungen lassen sich schnell erkennen. Deswegen sind quantifizierte Ziele, idealerweise mit einer akzeptierten Systematik in Form eines Reifegradmodells so hilfreich zur Umsetzung der Digitalisierungsstrategie
Reifegradmodelle werden in der Praxis oft als statisch und wenig sexy wahrgenommen. Mit welcher Argumentation würden Sie den Skeptikern begegnen? Wie wichtig ist die Erfassung und Transparenz von Prozessexzellenz wirklich?
Jörg Puchan: „Ich sagte ja schon: „messen oder vergessen“. Alles, was nicht gemessen werden kann, läuft Gefahr, im Zweifel ignoriert, hintenangestellt oder tatsächlich vergessen zu werden. Mit einem systematischen Vorgehen passiert das nicht. Diese Daten können dann auch für Benchmarks herangezogen werden.“
Was sind die größten Hürden bei einer Umstellung auf Reifegradmanagement und prozessgesteuerte Unternehmensführung?
Jörg Puchan: „Die Überwindung der operativen Hektik im Alltag und die Etablierung einer vitalen und zumindest mittelfristig-orientierten Unternehmensentwicklung dürfte die größte Hürde sein. Häufig ist das Problem, dass es keine Person (z.B. CPO) gibt, die einen Plan und den Mut für die Umstellung auf eine nicht-hierarchische Organisation entwickeln kann. Gerade in mittelständischen Unternehmen ist selten ein systematisches, konzertiertes Vorgehen zu sehen. Oft wird mit vielen Einzelaktionen versucht, die Organisation zu entwickeln bzw. Lücken auszumerzen.
Darüber hinaus ist es wichtig, die konkrete Zielsetzung des Vorhabens top down zu entwickeln, zu dokumentieren und zu kommunizieren (Change Management). Der erste automatisierte oder reifegradgesteuerte Prozess sollte auch eine gewisse Bedeutung und Wiederholhäufigkeit besitzen, damit Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt gewonnen und sichtbar gemacht werden können. Sichtbare und quantifizierbare Erfolge sind in der Pilotphase besonders wichtig, damit die Kosten-Nutzen-Analyse für die weitere Ausrollung positiv ausfällt und diese nicht gleich am Anfang behindert wird oder gar am Widerstand der Skeptiker und Protektionisten scheitert.
Als dritte Hürde und Herausforderung sehe ich die Nachhaltigkeit und Entschlossenheit gegenüber dauerhaftem operativem Widerstand. Hier braucht es das obere Management, das die Änderungen auch mittelfristig immer wieder einfordert und die Entwicklung nicht zurückdreht, weil dies z.B. von Mitarbeitern aus kurzfristigen Überlegungen heraus gefordert wird.“
Das sind einiges Stolpersteine auf dem Weg zur Digitalisierung. Welche Tipps können Sie Unternehmen geben, um Fehler bei der Umsetzung ihrer Digitalisierungsstrategie möglichst zu vermeiden?
Jörg Puchan: „Managementattention ist von Anfang an entscheidend. Wichtige Kernprozesse sollten ab der Planung bis zur nachhaltigen, optimierten und automatisierten Implementierung betreut und vom Management in ihrer Bedeutung für das Unternehmen immer wieder bestätigt werden. Der Einbezug von Anwendern und Verantwortlichen sollte frühzeitig geschehen. Zielführend ist eine Kombination aus Organisations- und Personalentwicklung, um die Anpassungen in der Ablauf- und Aufbauorganisation durch geeignete Methoden aus dem Prozessmanagement und Veränderungsmanagement (Change Management) zu begleiten.“