DER PROZESSMANAGER: Seit knapp 10 Jahren leiten Sie die Geschicke der Modell Aachen GmbH, Anbieter eines kollaborativen Prozessmanagement-Tools auf Social-Media Basis.

Wie kam es zur Idee Social Media Prinzipien und Prozessmanagement zu verbinden?

Dr. Carsten Behrens: Bei den Beratungsprojekten während meiner Promotion im Themenfeld Prozess- und Qualitätsmanagement ist mir immer wieder aufgefallen, dass in vielen Unternehmen eine große Differenz zwischen Managementsystem-Dokumentation und Realität besteht. Das entscheidende Manko der meisten Prozessmanagement-Tools: Mitarbeiter können ihre Korrekturen und Verbesserungsvorschläge nicht selbstständig in die Dokumentation einbringen. Es lag also nahe, die Wiki-Technologie für die Prozessmodellierung zu nutzen und aus betroffenen Mitarbeitern aktive Beteiligte zu machen – der Kerngedanke der Sozialen Medien.

Diesen Ansatz haben wir am Institut seit 2006 konsequent weitergedacht, zunächst bei befreundeten Unternehmen erprobt und schließlich die ersten großen Industriekunden gewonnen. 2009 wurde dann die Modell Aachen GmbH gegründet. Mittlerweile sind wir der führende Anbieter kollaborativer Software für Managementsysteme.

DER PROZESSMANAGER: Insbesondere der deutsche Mittelstand tut sich bei seinen Digitalisierungsbemühungen schwer. Oftmals liegt es an unzureichend justierten Geschäftsprozessen.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Hürden bei der Umstellung auf eine geschäftsprozessorientierte Unternehmensführung?

Dr. Carsten Behrens: In über 400 Projekten haben wir drei wesentliche Hürden identifiziert:

  1. fehlendes Erkennen des persönlichen Nutzens,
  2. Angst vor Veränderung,
  3. negative Erfahrungen mit der Methode „Prozessmanagement“, etwa durch Formalismen im Zuge einer ISO 9001-Zertifizierung.

Mit unserem kollaborativen Ansatz schaffen wir einen größtmöglichen Mehrwert für die Mitarbeiter, indem wir Prozess- und Wissensmanagement miteinander kombinieren. Denn so entsteht eine wertvolle Informationsplattform mit alltagsrelevanten Hilfestellungen, Tipps und Hinweisen in Prozessstruktur. Diesen persönlichen Nutzen vermitteln wir zunächst gerne einer kleinen Pilotgruppe. Deren Begeisterung lässt sich dann prima als „Grillanzünder“ nutzen und auf das restliche Unternehmen übertragen.

Der Angst vor Veränderung begegnen wir mit Methoden aus dem Change Management. Besonders wichtig ist dabei die Definition der Zielstellung: Was sind die Bewahrungs-Ziele, was die Nicht-Ziele? Welche Sorgen und Bedenken bestehen eigentlich und warum? Auch hier gilt es, den persönlichen Nutzen der Veränderung immer wieder zielgruppengerecht zu kommunizieren.

Zuletzt nehmen wir dem Thema Prozessmanagement die ungeliebte Komplexität: Wir vereinfachen es derart, dass jeder Mitarbeiter sich nach einer kurzen Erklärung sowohl softwaretechnisch als auch methodisch in die Prozessmodellierung einbringen kann. So wird der Mehrwert schnell spürbar!

DER PROZESSMANAGER: Agilität und Prozessmanagement. Die Kombination ist aktuell ein heiß diskutiertes Thema. Auf den ersten Blick wirft das nur Fragezeichen auf. Denn das eine soll planen und strukturieren und das andere soll flexibel auf Marktänderungen reagieren.

Warum braucht klassisches Prozessmanagement dennoch Agilität?

Dr. Carsten Behrens: In der Vergangenheit galten Prozessmanagement und Agilität als widersprüchlich, Unternehmen mussten einen Kompromiss zwischen zwei vermeintlichen Extremen finden. Doch dieser Widerspruch besteht ausschließlich in schwergewichtigen, meist zentralistischen Managementsystemen. Hier sorgt der Weg über eine zentrale Stelle nämlich für einen hohen Pflegeaufwand und eine geringe Beteiligung: Inhalte werden nur selten aktualisiert und es entsteht eine Lücke zwischen Dokumentation und Realität.

Wir schließen diese Lücke, indem wir Prozessmanagement dezentralisieren und alle Mitarbeiter aktiv daran beteiligen. Mit einem kollaborativen Ansatz weicht das schwergewichtige Managementsystem einem leichtgewichtigen, iterativen System. Starre Vorgaben weichen temporären Vereinbarungen, aktuelle Best Practices rücken in den Fokus. Das ist der grundsätzliche Ansatz von agilem Prozessmanagement, der das Spannungsfeld zwischen Agilität und Prozessmanagement vollständig auflöst. Denn auch bei agilen Vorgehensweisen bestehen klare Regeln – sie ändern sich nur häufiger als wir es aus dem klassischen Prozessmanagement kennen.

DER PROZESSMANAGER: Was sind die konkreten Vorteile von agilen Managementsystemen für Unternehmen?

Dr. Carsten Behrens: Mit unserem kollaborativen Ansatz reichern Mitarbeiter die unternehmenseigenen Prozesse kontinuierlich mit alltagsrelevantem Prozesswissen an – Dokumentation und Realität sind eng miteinander verbunden. Die Möglichkeit zur Partizipation und der Mehrwert für die Nutzer sorgen außerdem dafür, dass sich die Mitarbeiter stärker mit dem Unternehmen und den geltenden Regeln identifizieren. Es entsteht ein lebendiges Werkzeug, das Prozessdenken und prozessorientierte Unternehmensführung fördert.

Gleichzeitig sind die gemeinsam modellierten Prozesse eine ideale Grundlage zur Digitalisierung. Auch hier gehen wir mit der „Agilen No-Code Digitalisierung“ neue Wege: Dank Baukastensystem mit intuitiv bedienbarer Oberfläche kann jeder beliebige Mitarbeiter Workflows per Drag-and-Drop zusammenstellen. Ganz ohne Programmierkenntnisse oder die Hilfe der IT gestalten sie so beispielsweise digitale Eingabemasken für Urlaubsanträge oder Maschinenwartungen. Selbst Workflows, die bereits im Einsatz sind, können jederzeit verändert oder ergänzt werden und bleiben somit agil. Automatische Migrationsskripte und eine sichere Nutzerführung sorgen für zuverlässige Arbeitsabläufe gemäß Poka Yoke Prinzip: Anwender können die Workflows nicht versehentlich „kaputtmachen“.

DER PROZESSMANAGER: Zum Abschluss noch praktische Tipps vom Experten. Welche drei Tipps würden Sie einem mittelständischen Hidden-Champion geben, der sich mit dem Gedanken beschäftigt auf ein agiles Managementsystem umzusteigen?

Dr. Carsten Behrens:

  1. Arbeiten Sie mit einem externen Partner zusammen, für den die Einführung agiler Managementsysteme Routine ist. Suchen Sie Ihren Partner sorgfältig aus: Besuchen Sie dessen Kunden, schauen Sie sich das Managementsystem dort in Aktion an und fragen Sie nach, wie die Zusammenarbeit war.
  2. Um ein agiles Managementsystem erfolgreich umzusetzen, benötigen Sie eine geeignete Software. Die Auswahl mit einem Pflichten- und Lastenheft ist an der Stelle allerdings nicht zielführend! Denn eine gute Prozessmanagement-Software zeichnet sich durch wenige relevante Funktionen aus, die Ihren Mitarbeitern die Partizipation besonders leicht machen. Testen Sie Tools darum aktiv auf Herz und Nieren: Ist ein Werkzeug nicht intuitiv bedienbar oder dürfen nur ausgesuchte Nutzer Prozesse modellieren, ist es das falsche. Schließlich lebt ein agiles Managementsystem davon, dass jeder Mitarbeiter seine Erfahrungswerte direkt in das System einbringen kann und darf.
  3. Starten Sie mit einer freiwilligen Pilotgruppe, die bereits vom Ansatz agiler Managementsysteme überzeugt ist. Wenden Sie sauberes Projekt- und Change Management an. Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist eine Grundfüllung mit hochwertigen, editierbaren Inhalten: Generieren Sie im Sinne eines agilen Projektvorgehens also möglichst schnell einen wahrgenommenen Nutzen für die Mitarbeiter, indem Sie gemeinsam relevanten Content erstellen. Der muss nicht von Beginn an perfekt sein – halten Sie die Konzeptionsphase lieber kurz und iterieren Sie Inhalte später. Genau darauf sind agile Managementsysteme ja ausgelegt!

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