Experimente haben in den Sozialwissenschaften eine lange Tradition. Die experimentelle Organisationsforschung ist in Deutschland seit Anfang der 1970er Jahre bekannt [1]. In den Wirtschaftswissenschaften erfährt diese Forschungsmethode aktuell große Beachtung. Dieser Artikel beschreibt die Durchführung eines einfachen Organisationsexperiments.

Process Mining: Das Experiment im Bürolabor

Es sollte die „Vermutung“ überprüft werden, ob die Reduktion von Papierdokumenten in einem realitätsnahen Geschäftsprozess die Durchlaufzeit verkürzt. Die Anforderungen an ein streng wissenschaftliches Experiment sind hoch. Zum einen müssen zu überprüfende Hypothesen streng kausal formuliert sein (die Hypothesenüberprüfung ist der eigentliche Zweck eines Experiments). Das bedeutet, dass neben der abhängigen Variablen (z.B. Durchlaufzeit) alle unabhängigen Variablen (z.B. Anzahl Papierdokumente) und Störvariablen (z.B. „Tagesform“ der Teilnehmer/innen) bekannt und vollständig kontrollierbar sein müssen. Das kann in sozialwissenschaftlichen Experimenten aufgrund des Irrationalitätsfaktors „Mensch“ nicht perfekt geleistet werden – deswegen die Überprüfung lediglich einer Vermutung.

Zum Einsatz kam das Bürolabor der Fakultät für Betriebswirtschaft an der Technischen Hochschule Rosenheim, welches seit 2014 zur Verfügung steht. Dieses Labor wurde „schlüsselfertig“ von der Firma Factory Consultants, spezialisiert auf Lean Production und Lean Administration, erworben. Realitätsnah nachgebildet wird der Verwaltungsbereich der Lean Drive GmbH, ein fiktives Unternehmen, welches Elektromotoren anbietet. Die meisten Arbeitsschritte werden durch eine einfache, individuell programmierte ERP-Software unterstützt.

Zur Durchführung des Experiments

Für den Versuch mussten lediglich drei Arbeitsplätze im Vertrieb, in der Technik (Leiter und Mitarbeiter) und im Einkauf besetzt werden. Der Versuchsleiter (Autor) übernahm die Rollen „Kunden“ und „Lieferanten“. Die Aufgabe bestand in der Bearbeitung eingehender Sonderanfragen und der darauf basierenden Erstellung von Sonderangeboten. Es waren die folgenden (Prozess-) Schritte notwendig:

  • Mitarbeiter Vertrieb: (Auf einer Kundenanfrage basierendes) Angebot in der ERP-Software anlegen
  • Leiter Technik: Produkt-Applikation und -Spezifikation papierbasiert erstellen
  • Mitarbeiter Technik: Motor mit einem Grafikprogramm konstruieren und Bauteile in der ERP-Software anlegen
  • Mitarbeiter Einkauf: Montage- und Rüstzeiten papierbasiert ermitteln, Lieferantenpreise/Lieferzeiten anfragen und beides im ERP eintragen
  • Mitarbeiter Vertrieb: Angebot im Tabellenkalkulationsprogramm kalkulieren und aus ERP mit Mailprogramm an Kunden versenden

Insgesamt wurden im Ausgangsprozess zwölf Papierdokumente (inkl. Kopien) benötigt bzw. erzeugt. Diese erste Experimentierrunde dauerte, ebenso wie die beiden folgenden, jeweils 40 Minuten. Die Prozesse blieben in jeder Runde unverändert.

In der zweiten Runde wurden die zahlreichen Dokumente weitgehend durch einen prozessbegleitenden „Laufzettel“ ersetzt. Der Laufzettel beinhaltete nur die tatsächlich ablaufrelevanten Informationen. Der Umfang reduzierte sich von zwölf auf fünf Papierdokumente.

In der dritten Experimentierrunde kam ein selbsterstelltes Workflowsystem zum Einsatz, wodurch nur noch drei Papierbelege übrig blieben (u.a. die als „Fax“ eingehende Anfrage).

Das Ergebnis der weitgehenden Reduktion von Papier im Verwaltungsbereich wird aktuell häufig als „Digitales Büro“ oder im Sinne eines Prozesses als „Digitalisierung im Büro“ bezeichnet. Für die Abschätzung der im (Entscheidungs-) Vorfeld oft unklaren, wirklichen Effizienzeffekte der Digitalisierung bieten sich also Experimente an.

Vorgehensweisen zur Auswertung

Die meisten Prozessschritte (siehe oben) wurden mit Unterstützung der ERP-Software durchgeführt. Diese Aktivitäten wurden automatisch protokolliert (als sogenannte „Event logs“) und als Excel-Datei ausgelesen. Diese automatischen „Messungen“ im Experimentverlauf blieben für die Teilnehmer unsichtbar und haben damit ihr Verhalten nicht beeinflusst (Verhaltensänderung unter Beobachtung ist einer der zentralen Störfaktoren in Experimenten).

Die Abbildung 1 zeigt einen Ausschnitt aus dieser Protokolldatei. Die Spalten bedeuten folgendes:

  • IDPRNR = Fortlaufende Nummerierung der Ereignisse
  • IDOBNR = Angebotsnummer
  • PRFORMULAR = Aufgerufene Bildschirmmaske
  • PRUSER = Systembenutzer
  • PRDAT und PRTIME = Datum und Zeit der Aktivität
  • PRAENDERUNG = Durchgeführte Aktivität

Diese Daten mussten für den nächsten Schritt noch (weitgehend manuell) aufbereitet werden. Das Ergebnis zeigt Abbildung 2.

Abbildung 1

Abbildung 1: Ausschnitt aus einer Protokolldatei mit „Event logs“

Abbildung 2

Abbildung 2: Ausschnitt aus der aufbereiteten Protokolldatei

Diese aufbereitete Datei wurde anschließend im csv-Format in eine „Process Mining-Software“ (hier: ARIS PPM) übernommen. Das gesamte Prozedere – Auslesen, Aufbereiten, Übernehmen – wird als „Extract, Transform, Load“ (ETL) bezeichnet und ist anfangs i.d.R. sehr aufwendig.

Das relativ junge, noch immer überwiegend unbekannte Fachgebiet des „Process Mining“ (in der Wissenschaft seit Ende der 1990er Jahre behandelt) ermöglicht es, aus diesen protokollierten Prozess-/ Ereignisdaten automatisiert Informationen zur Darstellung, Überwachung, Analyse und Optimierung von Prozessen zu erzeugen [2]. Basis dazu sind in Anwendungssystemen protokollierte, tatsächliche Prozessdurchläufe. Process Mining ist damit eine wesentliche Grundlage für ein „datengetriebenes“ Prozessmanagement.

Ziel des Process Mining ist u.a., aus den aufgezeichneten Ereignisdaten grafische Ist-Prozessmodelle für weitere Analysen automatisch zu generieren („Automated Process Discovery“). Für quantitative Analysen werden i.d.R. pro Prozess mehrere Kennzahlen (z.B. Prozesszeiten) und differenzierende Dimensionen (z.B. Auftragsarten) definiert. Die Kennzahlen repräsentieren – im Kontext eines Experiments – Wirkungen bzw. abhängige Variablen. Die Dimensionen können als Ursachen bzw. unabhängige oder auch störende Variablen verstanden werden (wobei in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften – im Gegensatz zu den Naturwissenschaften – nicht von streng kausalen Ursache-/Wirkungszusammenhängen auszugehen ist).

Beispielhafte Ergebnisse

Zu beachten ist, dass die nachfolgenden Resultate lediglich auf zehn kompletten Prozessdurchläufen basieren (nicht zu Ende geführte Bearbeitungen wurden nicht berücksichtigt). Damit haben die Ergebnisse eher exemplarischen Wert und können nicht zur tatsächlichen Überprüfung der Ausgangsvermutung dienen.

Abbildung 3 zeigt für einen Prozessdurchlauf (Instanz) der zweiten Experimentierrunde das automatisch erzeugte Prozessmodell in Form einer sogenannten „Ereignisgesteuerten Prozesskette“ (EPK) [3].

Abbildung 3

Abbildung 3: Modell einer beispielhaften Prozessinstanz

Man erkennt am Anfang des Prozesses das Startereignis „Angebot anlegen zu tun“. Die etwas sperrige Formulierung ist automatisch erzeugt und soll heißen: „Ein Angebot ist anzulegen“. Der Mitarbeiter im Vertrieb beginnt um 11:45:20 Uhr mit dem Anlegen des Angebots. Aufgrund einer nur unvollständig möglichen Protokollierung kann der nächste Prozessschritt inhaltlich und organisatorisch nicht genauer unterschieden werden. Jedenfalls endet der Prozessdurchlauf (als einer von insgesamt 10) um 12:03:27 Uhr am gleichen Tag im Vertrieb mit einer Durchlaufzeit von 18:07 Min.

Betrachtet man für alle drei Versuchsrunden die mittleren Durchlaufzeiten (DZ), ergibt sich folgendes Bild:

  • Runde 1: 12 Dokumente, DZ = 32,2 Min.
  • Runde 2: 5 Dokumente, DZ = 24,1 Min.
  • Runde 3: 3 Dokumente, DZ = 18,4 Min.

Die Vermutung, dass weniger Dokumente („Digitalisierung“) die Durchlaufzeit reduzieren, scheint sich zu bestätigen (man beachte allerdings die oben erwähnte geringe Anzahl an Instanzen). Die Anzahl an Dokumenten scheint eine relevante Ursache (Prozessdimension) zu sein. Die damit verbundenen Zeiteinsparungen können (vorsichtig) abgeschätzt werden.

Zuletzt soll noch – im Rahmen einer verkürzten Ergebnisdarstellung – aufgezeigt werden, ob nicht noch andere Ursachen (unabhängige oder störende Variablen) als die Dokumentenanzahl Einfluss auf die Durchlaufzeit haben.

Die verwendete Process Mining-Software ermittelt dazu für vorhandene Dimensionen u.a. sogenannte „prozentuale Schwankungsbreiten“. Man geht dabei davon aus, dass der Wirkzusammenhang zwischen unabhängiger bzw. störender Variablen (in Form der Dimensionen) und der abhängigen Variablen (in Form der Kennzahl) umso stärker ist, je deutlicher die abhängige Variable auf Veränderungen der unabhängigen bzw. störenden Variablen reagiert.

Für die Dimension „Dokumentenanzahl“ beträgt die Schwankungsbreite 22,7%. Mit 15,4% ist der Wert für die Dimension „Kunde“ ähnlich hoch. Folglich könnte die ergänzende Vermutung „Auch Kunden beeinflussen durch ihre spezifischen Anfragen die Durchlaufzeiten“ aufgestellt werden.

Fazit

Organisatorische Laborexperimente können helfen, organisatorische, technische oder auch personelle Veränderungsmaßnahmen auf ihre generelle Wirksamkeit hin zu überprüfen. Zudem kann der „Wirkungsgrad“ („Wie groß ist z.B. die zu erwartende Zeitverkürzung?“) abgeschätzt werden. Das beispielhafte Experiment zeigt eindrücklich, dass Messungen und Auswertungen in Experimenten durch die Möglichkeiten des Process Mining zu verbessern sind.

Eine ausführliche Darstellung finden Sie in der zfo – Zeitschrift Führung + Organisationzfo Archiv

Seidlmeier, H.: Experimente im Bürolabor – Grundsätzliche Überlegungen und ein praktisches Anwendungsbeispiel, in: zfo, 85. Jg., 2016, Heft 5, S. 315 – 323

Zum Autor

Foto: Heinrich Seidlmeier

Prof. Dr. Heinrich Seidlmeier lehrt und forscht im Bereich „Organisation und Wirtschaftsinformatik“ an der Technischen Hochschule Rosenheim. Bekannt ist sein Buch „Prozessmodellierung mit ARIS“ in der fünften Auflage. Sein aktuelles Interesse gilt der empirischen Organisationsforschung und dem Process Mining. Vernetzen Sie sich mit ihm auf Xing und LinkedIn.

Anmerkungen, Quellen und Einzelnachweise:

[1] Picot, A.: Experimentelle Organisationsforschung. Wiesbaden. 1975.

[2] van der Aalst, W. M. P.: Process Mining. Heidelberg usw. 2. Auflage, 2016.

[3] Scheer, A.-W.: ARIS – Modellierungsmethoden, Metamodelle, Anwendungen. Berlin usw. 3. Auflage, 1998.

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