DER PROZESSMANAGER: Die Holisticon AG ist eine Management- und IT-Beratung aus Hamburg. Zu den Kompetenzen Ihres Unternehmens zählt die BPM bzw. Prozessautomatisierung. Dieses Geschäftsfeld leiten Sie bereits seit 12 Jahren. Was begeistert Sie besonders an diesem Thema?

Jo Ehm: Prozesse sind immer und überall, in allen Branchen und Bereichen, oftmals auch an Orten wo man sie zunächst gar nicht vermutet. Und es gibt immer Potenzial, etwas zu verbessern. Auf fachlicher Ebene ist es für mich immer wieder spannend, mit den beteiligten Menschen ihre Prozesse herauszuarbeiten und Unternehmen dabei zu helfen, besser zu werden. Als Informatiker interessiert mich dabei insbesondere die technische Umsetzung: vom UI/UX für Human Workflows bis hin zur Integration von heterogenen Systemen, alles übergeordnet gesteuert durch eine Process Engine.

Diese Arbeit in komplexen Umfeldern, im Spannungsfeld zwischen Fachbereichen, IT und Organisation macht für mich den Reiz am Thema BPM aus. Sie ist niemals langweilig und immer wieder herausfordernd, insbesondere wenn es darum geht, das richtige Maß zu finden: welche Teile eines Prozesses standardisiert und automatisiert man, wo lässt man oder schafft man bewusst Freiraum für menschliches Handeln und Kreativität.

DER PROZESSMANAGER: Der Fokus Ihres Unternehmens ist die Automatisierung von Geschäftsprozessen.Wie gestalten Sie den Einstieg in die intelligente Automatisierung? Welche Analysen werden dabei zu Beginn durchgeführt? (Dokumentation, Modellierung, IT-Unterstützung, …)

Jo Ehm: BPM und Prozessautomatisierung ist nur einer unserer Schwerpunkte. Software-Architektur, Smart Data und Agile Methoden sind weitere Kernkompetenzen von Holisticon. Entsprechend gehen wir auch bei BPM-Projekten vor, nämlich agil.

Leider neigen BPM-Projekte aufgrund ihrer Natur oft dazu, nach Wasserfall durchgeführt zu werden: erst werden die IST-Prozesse lang und breit analysiert, dann die SOLL-Prozesse bis ins (scheinbar) letzte Detail ausmodelliert. Auf Basis dieser Modelle wird dann die Software implementiert und erst zum Schluss in einer Testphase geprüft und abgenommen. Der Komplexität und Dynamik im Umfeld von Geschäftsprozessen wird ein derartiges Vorgehen nicht gerecht. Gerade BPM-Projekte, die ja selbst auf eine kontinuierliche Verbesserung abzielen, profitieren enorm von der agilen Durchführung. Aus einer Interpretation von Scrum im Kontext von BPM sowie Anleihen aus einem anderen agilen Framework, DSDM Atern, haben wir für uns ein Vorgehensmodell herausgearbeitet, das wir seinerzeit „BPM/SOAgil“ genannt und über die Jahre immer weiter entwickelt und erfolgreich in Projekten eingesetzt haben.

In einer möglichst kurz gehaltenen Grundlagenphase klären wir die fachlichen und technischen Rahmenbedingungen, entwickeln erste strategische Prozessmodelle sowie einen Architekturentwurf. Ziel dieser Grundlagenphase ist ein gemeinsames „Big Picture“ für die Projektdurchführung. Die weitere Arbeit erfolgt dann iterativ-inkrementell, sowohl bei der detaillierten Ausarbeitung der Anforderungen und Prozessmodelle wie auch in der technischen Umsetzung, nur mit einem leichten zeitlichen Versatz. So können Teilergebnisse frühzeitig überprüft und Änderungswünsche aufgenommen werden. Das Resultat ist die Umsetzung der richtigen Lösung ohne Überfluss.  Ist der grundlegende Prozessdurchstich schließlich erreicht, können interdisziplinäre Teams die Prozessanwendungen mit Features bis zur Produktionsreife anreichern.

Grafik: Agil Versetzte Sprints

Sinnvoll ist es auch, gleich von Anfang an KPIs einzuführen, da sich damit schon während des Projekts der Fortschritt und die Qualität messen lassen. Darüber hinaus schärft die Diskussion über KPIs die Ziele und Qualitätskriterien.

DER PROZESSMANAGER: Welche Nutzen und Vorteile bietet die „Robotergesteuerte Prozessautomatisierung“? In welchen Bereichen ist diese hilfreich, und in welchen schadet diese sogar?

Jo Ehm: RPA kann dort hilfreich und sinnvoll sein, wo sich wiederkehrende, monotone Routineaufgaben in existierenden Systemen mit verhältnismäßig geringem Aufwand und Kosten – gegenüber einem Reengineering oder einer neuen (prozessorientierten) Softwarelösung – mehr oder weniger 1:1 automatisieren lassen. Aber genau da liegt auch die Gefahr: Wenn ich einen schlechten Prozess durch RPA automatisiere, habe ich halt einen schlechten robotergesteuerten Prozess.

RPA ist für mich ein wenig das Prozess-Pflaster für Legacy-Anwendungen. Das muss nicht schlecht sein, sondern kann durchaus zu Effizienzsteigerungen führen. Gleichzeitig muss man jedoch hinterfragen, ob der übermäßige Einsatz von RPA nicht ein Anzeichen dafür ist, dass viele Unternehmen im Sinne einer Managed Evolution bereits aus der Kurve geflogen sind oder zumindest auf der Grasnabe fahren? Wenn die Prozesse so einfach zu robotisieren sind, warum hat das nicht schon früher stattgefunden? Oder reicht die aktuell verantwortliche Generation an Entscheidern den Kelch einfach an die nächste Generation weiter, mit dem Risiko, dass RPA die Hypothek weiter wachsen lässt?

In jedem Fall muss die (taktische) Entscheidung für eine RPA-Lösung immer im übergeordneten Kontext eines strategischen BPM betrachtet werden. Ein fundiertes Verständnis der eigenen Prozesse ist wichtig, um RPA an den richtigen Stellen einzusetzen und nachhaltig nutzen zu können. Für Unterstützungsprozesse und -funktionen ist RPA nachvollziehbar. Für wertschöpfende Kernprozesse, bei denen es um Wettbewerbsvorteile und eine Diversifizierung am Markt bei gleichzeitiger Flexibilisierung geht, sind andere Lösungen gefragt.

DER PROZESSMANAGER: Welche Technologien nutzen Sie zur Prozessautomatisierung? Warum haben Sie sich für diese entschieden?

Jo Ehm: Als Beratungshaus sind wir zunächst einmal technologie- und herstellerneutral. Zusammen mit unseren Kunden finden wir die für die konkreten Problemstellungen und das technische wie auch organisatorische Umfeld jeweils passenden Tools und Technologien. In der Regel verfolgen wir dabei einen „Best-of-Breed“-Ansatz, d.h. eine Integration einzelner, spezialisierter Komponenten auf Basis offener Standards anstelle von proprietären Komplettlösungen. Große, in sich geschlossene BPM-Suiten funktionieren in der Regel nur so lange gut, wie man sich genau auf dem Pfad bewegt, den der Hersteller für das jeweilige Produkt vorgedacht hat. Kommen aber individuelle Anforderungen ins Spiel, wird es oft unschön und man fängt an, die Software irgendwie aufzubohren, zu verbiegen oder sich Workarounds zu basteln. Ggf. stellt bei intensiverem Einsatz dann auch fest, dass viele große BPM-Suiten eher aus zusammengekauften Komponenten bestehen, die gar nicht so hochintegriert sind, wie einen das Marketingmaterial glauben machen wollte…

Natürlich haben aber auch wir Favoriten. In dem Umfeld, in dem wir uns hauptsächlich bewegen, nämlich der individuellen Entwicklung von Unternehmensanwendungen im Java-Bereich, ist dies derzeit Camunda BPM. Camunda BPM ist eine leichtgewichtige Process Engine, unterstützt neben BPMN 2.0 auch DMN und CMMN und fügt sich nahtlos in die gängigen Software-Entwicklungsprozesse und Architekturen ein. Geht es weniger um Automatisierung, sondern hauptsächlich um Prozessdokumentation und BPMN-Modellierung mit vielen Beteiligten, bin ich persönlich ein großer Freund des Signavio Process Manager, insbesondere wegen seiner Möglichkeiten der Publikation, Kollaboration und Nachverfolgung von Änderungen von Prozessmodellen.

DER PROZESSMANAGER: In unserem Interview hat Dr. Ulrich Kampffmeyer gesagt: “Man kann also die Gleichung aufmachen, RPA = Business Process Management mit verstärkter – weil begrifflich doppelt vorhanden – Automatisierung.” Was ist Ihre Meinung zu dieser Gleichung?

Jo Ehm: So wie hier kurz zitiert kann ich dieser Gleichung nicht 100%ig zustimmen. Wenngleich auch für sich alleine einsetzbar, sehe ich RPA eher umgekehrt als eine mögliche Teildisziplin oder ein Werkzeug des BPM. Im Kontext des gesamten Interviews mit Herrn Dr. Kampffmeyer hat die Gleichung allerdings einen etwas anderen Tenor. Dr. Kampffmeyer spricht eben auch davon, dass RPA “Lücken schnell füllt und Aufwand reduziert”. Dieser Auffassung stimme voll zu. Dort wo wir mit klassischen BPM-Lösungen an die Grenzen der Automatisierung stoßen, weil entsprechende Schnittstellen zu existierenden Altsystemen fehlen, hilft RPA, bisher nur manuell durchführbare Tätigkeiten nun auch zu automatisieren. Insofern steigern wir nochmal den Automatisierungsanteil – vollkommen richtig. Meine Gleichung sähe damit so aus: BPM + RPA = Automatisierung++.

Übrigens: Die Holisticon AG ist immer auf der Suche nach guten Köpfen, die die Crew mit ihrem Wissen und Können tatkräftig und motiviert bereichern. Interessiert? Mehr Informationen auf www.holisticon.de oder kununu 

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