DER PROZESSMANAGER: In Ihrer Tätigkeit beraten Sie v.a. Unternehmen aus dem produzierenden Gewerbe. Insbesondere die Verbesserung von operativen Abläufen im Kontext Systems Engineering ist Ihr Spezialgebiet. Wie definieren Sie den Begriff Systems Engineering?

Ingo Treue: Unser Verständnis zum Systems Engineering deckt sich mit dem Verständnis der INCOSE und seinem deutschen Verband, der Gesellschaft für Systems Engineering (GfSE). Es ist der interdisziplinäre Ansatz ein System in seiner Gesamtheit zu betrachten, zu entwickeln, zu produzieren und über den gesamten Lebenszyklus – von Betrieb und Wartung bis hin zur Entsorgung – zu behandeln. Wir verstehen es als eine organisationsübergreifende Disziplin, die den Menschen, der mit dem System in seinem Lebenszyklus umgeht, in den Mittelpunkt stellt. Systems Engineering hat den Anspruch, alle Belange zu berücksichtigen und den Erfolg des Systems – nicht nur wirtschaftlich – sicherzustellen. Eine sehr große Herausforderung, die besondere Denkweisen und Kompetenzen erfordert.

DER PROZESSMANAGER: Nun sind wir ja ein Fachportal für Prozessmanagement und viele Leser schlagen die Brücke zwischen Systems Engineering und BPM erstmal nicht. Wo sehen Sie den Zusammenhang bzw. evtl. auch die Abhängigkeit?

Ingo Treue: Für mich gibt es hier viele Zusammenhänge, die ich gerne nach zwei unterschiedlichen Perspektiven differenziere:

Zunächst die offensichtliche Perspektive, wenn wir Systems Engineering anwenden wollen, also die Lebenszyklusprozesse nach ISO 15288:2015. Dieser Standard definiert anhand von 31 Prozessen, verteilt auf unterschiedliche Prozessgebiete, welche Aktivitäten im Laufe des Systemlebenszyklus durchgeführt werden müssen, um den Erfolg des Systems sicherzustellen. Viele unserer Kunden möchten Ihre Arbeitsweisen danach ausrichten und lassen sich dabei von uns beraten.

“Systems Engineering wird schon von vielen unserer Kunden betrieben, sie nennen es bloß nicht so”

Eine zweite Perspektive ergibt sich, wenn man den Zweck des Systems hinterfragt. Der spätere Nutzer des Systems hat einen Bedarf, den er mit dem zu entwickelnden System erfüllen möchte. Dieser Bedarf ergibt sich aus dem Business Process des Nutzers. Eine Fluggesellschaft zum Beispiel hat den Bedarf für eine bestimmte Art Flugzeug aus dem Arbeitsprozess des Personen- oder Warentransports. Hieraus ergeben sich am Ende konkrete Anforderungen an das zu entwickelnde System.

DER PROZESSMANAGER: Auf welche Herausforderungen stoßen Sie bei der Einführung Ihres Ansatzes grundsätzlich?

Ingo Treue: Sehr häufig gehen unsere Kunden davon aus, dass Sie ab sofort Systems Engineering machen wollen oder müssen. Sie richten sich also darauf ein, etwas völlig Neues und anderes zu machen. Die meisten unserer Kunden sind jedoch sehr erfolgreich, gerade weil sie bereits viele der Prozesse und Methoden des Systems Engineering anwenden, sie machen also schon viel Systems Engineering, nennen es aber nicht so.

Wenn man dann im Detail hinterfragt, wie die aktuellen Arbeitsweisen umgesetzt sind, dann zeigen sich aber häufig Probleme im Timing der Aktivitäten, in der Durchgängigkeit der Anwendung oder im Verständnis nach dem Zweck einzelner Regelungen. Durch Adhoc-Entscheidungen werden Grundsätze des Systems Engineering häufig ausgehebelt, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Dies hat gerade in der Entwicklung komplexer Systeme oft fatale Folgen. Gelingt es uns dann im Rahmen der Beratung hier für Transparenz zu sorgen, werden bessere Entscheidungen getroffen und somit künftige Probleme vermieden.

Bei manchen unserer Kunden werden trotz aller Transparenz, die Entscheidungen nicht anders getroffen als bisher, schließlich ist man ja bisher sehr erfolgreich gewesen. Hier heißt es für uns, mit konsequentem Coaching bei unseren Kunden für disruptive Denkweisen, Mut und Pioniergeist zu sorgen.

DER PROZESSMANAGER: Das ist ja interessant. Können Sie ein konkretes Szenario aus einem Projekt nennen in dem genau diese Diskrepanz zwischen Strategie und operativen Geschäft gelöst werden konnte?

Ingo Treue: Einer unserer Kunden war seit Jahren gewohnt, sein System der nächsten Generation auf Basis der verfügbaren Teilsysteme und Komponenten aus seinem Baukasten zu definieren. Der Auftrag an die Systemabteilung war dann, aus den verfügbaren Teilen das beste System zu kreieren. Diese Vorgehensweise steht in direktem Gegensatz zum TopDown-Ansatz im Systems Engineering.

Als unser Kunde dann beschloss die nächste Generation „mit Systems Engineering“ zu entwickeln, war es nahezu unmöglich den Kunden davon zu überzeugen, von der Systemabteilung definieren zu lassen, welche Teilsysteme und Komponenten das System überhaupt braucht. Dies führte zu einer parallelen Konzeptentwicklung nach beiden Ansätzen. Der Vergleich der beiden entwickelten Konzepte zeigte ein erhebliches Einsparpotential bei den Implementierungskosten bei gleichzeitig größerem Funktionsumfang und größerer Systemagilität. Ein überwältigendes Ergebnis, was unseren Kunden zum Umdenken veranlasste.

DER PROZESSMANAGER: Abschließend noch eine Einschätzung: Zunehmende Digitalisierung betrifft ja auch das produzierende Gewerbe. Stichwort: Industrie 4.0. Welchen Stellenwert schreiben Sie in diesem Kontext dem Prozessmanagement für den Erfolg oder Misserfolg von Unternehmen in den nächsten Jahren zu?

Ingo Treue: Digitalisierung verändert schon heute unsere Arbeitsweisen dramatisch. Die Dynamik dieser Veränderung wird durch die Möglichkeiten von Industrie 4.0 entscheidend beeinflusst. Eine besondere Herausforderung stellt der Umgang mit den Datenmengen, die von den IT-Systemen erfasst und verarbeitet werden, dar. Für eine sinnvolle Wertschöpfung aus den Möglichkeiten von Industrie 4.0 ist eine klare Definition der Prozesse, deren disziplinierte Anwendung und vor allem deren konsistente Umsetzung in IT-Systemen zwingende Voraussetzung. Denn allein durch die Digitalisierung eines Prozesses wird dieser nicht automatisch besser – getreu dem Motto „Shit in – shit out“. Die Grundlage muss immer ein State-of-the-Art Systems Engineering Prozess sein.

DER PROZESSMANAGER: Vielen Dank für das sensationelle Interview und die Einblicke zu Systems Engineering!

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