DER PROZESSMANAGER: Herr Borgstedt, das Thema Industrie 4.0 ist in aller Munde und wird mal mehr, mal weniger bereits in Produktionsunternehmen eingesetzt. Könnten Sie aus Ihrer Sicht beschreiben, welche Chancen und damit auch Nutzen sich für Organisationen durch die Einführung von I4.0 innerhalb der Produktion bieten?

Marek Borgstedt: Unternehmen streben durchwegs eine Verbesserung der Größen Kosten, Qualität und Zeit des „magischen“ Dreiecks an. Die Kosten sowie die Zeit, innerhalb der Produktion insbesondere die Durchlaufzeit, sollen gesenkt, die Qualität gleichzeitig gesteigert werden.

Industrie 4.0 bietet für diesen Zielkonflikt neuartige technologische Lösungsansätze an und ermöglicht es Unternehmen daher sich ganzheitlich zu verbessern. So werden bspw. im Bereich der Produktionsplanung bzw. des -engineerings kürzere Fertigungszeiten, geringere Kosten sowie mehr Produktvarianten realisierbar und das bei gleichzeitig kleineren Losgrößen, höherem Durchsatz sowie einer höheren Verfügbarkeit des Produktionssystems. Die Produktionsausführung profitiert immens von einer Reduzierung der Durchlaufzeit, einer Erhöhung der Liefertreue, eine Verbesserung der Qualität sowie eine schnellere Reaktion auf ungeplante Ereignisse.

DER PROZESSMANAGER: Um diese von Ihnen aufgezählten Nutzen zu erreichen bedarf es aus Sicht der Forschung einer digitalen Fabrik. Wie sehen technologische Merkmale einer solchen digitalen Fabrik ihrer Meinung nach aus?

Marek Borgstedt: Aus meiner Sicht hat eine digitale Fabrik vier technologische Merkmale zu 100% zu erfüllen, damit man von einer digitalen Fabrik sprechen kann. Zunächst müssen eine ganzheitliche Datendurchgängigkeit und eine Vernetzung der Wertschöpfung vorliegen. Darüber hinaus müssen Daten in Realtime, also in Echtzeit, verfügbar sein, um stets basierend auf aktuellen Kennzahlen reagieren und vor allem agieren zu können.

Als drittes sind eine automatisierte Analyse und Problemdiagnose ein entscheidendes Merkmal, als Beispiel sein an dieser Stelle das Thema Instandhaltung (Predictive Maintenance) zu nennen. Das letzte Merkmal betrifft die Automatisierung der Wertschöpfung, wobei es sich dabei um Vollautomatisierung, aber auch um Teilautomatisierung von Prozessen handeln kann, in welchen dem Menschen mittels Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK) oder informativen Unterstützungssystemen, z.B. Wearables, geholfen wird.

DER PROZESSMANAGER: Folgt aus der digitalen Fabrik damit eine Abkehr vom ursprünglichen Lean-Gedanken?

Marek Borgstedt: Wie bereits in meiner ersten Antwort erwähnt, zielt das Thema Industrie 4.0 auf Verbesserungen im „magischen“ Dreieck Kosten, Qualität und Zeit. Damit werden die gleichen Attribute wie bei Lean angesprochen und der Basisansatz ist somit derselbe. Digitalisierung und Industrie 4.0 bieten somit einen neuen, großen Lösungsraum für die Weiterentwicklung von Lean, denn Standardisierung und stabile Prozesse stellen nämlich die unabdingbare Voraussetzung der Industrie 4.0 dar. Grundlage der Weiterentwicklung besteht insbesondere in der Möglichkeit des Austauschs von Informationen zwischen beliebigen Endpunkten des Wertstroms in kürzester Zeit, sodass sich große Potentiale bspw. in folgenden Bereichen ergeben:

  • Vorausschauende Instandhaltung (Predictive Maintenance) ermöglicht eine proaktive Problemlösung, bevor Auswirkungen auf den Produktionsprozess eintreten.
  • Die Konfiguration von (Standard-)Arbeitsanweisung und Arbeitsplätzen erfolgt durch das Produkt.
  • Das Produkt als Informationsträger erzeugt Daten und steuert aktiv seinen Produktionsprozess.
  • Unternehmen können große und kundenindividuelle Arbeitsumfänge aufwandsärmer standardisieren (z. B. wenn das Produkt die Konfiguration und Bereitstellung seiner eigenen Standardarbeitsdokumente anstößt).
  • Zustandsüberwachung (Condition Monitoring) führt zur schnelleren, reaktiven Problemlösung (z. B. durch die Verknüpfung und Aufbereitung von Produkt- und Prozessdaten).

DER PROZESSMANAGER: Wenn Industrie 4.0 und die digitale Fabrik doch solche Vorteile bietet, warum sind dann viele Unternehmen des Mittelstands, mit denen sie täglich mit Ihrem Beratungsunternehmen T&O arbeiten, im Gegensatz zu Großunternehmen oftmals passiv in der Umsetzung dieser Thematik?

Marek Borgstedt: Neben einer zu geringen Finanzierung der für die Digitalisierung notwendigen Investitionen ist es in mittelständischen Unternehmen sehr häufig der Fall, dass zu wenig digitale Kompetenz in Form von Fachwissen vorhanden ist. Dies sorgt für Probleme, da bewährte Systeme und Prozesse verändert werden und somit auch die Mitarbeiter sowie die Unternehmensleitung ihre Kenntnisse erweitern müssen. Dadurch besteht häufig ein hoher Bedarf an kompetenten Fachkräften, die einen Betrieb bei der Umsetzung seiner Digitalisierungsstrategie unterstützen und die gesamte Umstellung der internen Strukturen begleiten.

Darüber hinaus kommt es häufig zu dem Problem, Digitalisierungsprojekte methodisch richtig umzusetzen. Dies liegt daran, dass viele Unternehmen Schwierigkeiten mit der dafür notwendigen agilen Arbeitsweise haben und schnell wieder in traditionelle Organisationsmodelle und -muster verfallen. Starre Hierarchiestrukturen wirken hier aber häufig kontraproduktiv. Abhilfe kann in diesem Fall das Hinzuziehen einer außenstehenden Beratung wie T&O schaffen, welche das entsprechende Fachwissen mitbringt, sowie mit dem Unternehmen auf Basis eines geeigneten methodisches Vorgehens eine unternehmensspezifische Vision entwickeln und umsetzen kann.

DER PROZESSMANAGER: Wie kann Ihrer Meinung nach, ein Plan für den Erfolg einer digitalen Fabrik aussehen?

Marek Borgstedt: Die bereits in der vorherigen Antwort gegeben Faktoren weisen auf die Notwendigkeit hin, nicht nur eine klare Vision, sondern auch einen realistischen Fahrplan für die Digitalisierung zu schaffen. Für den Erfolg sind daher mehrere Punkte relevant, welche ich sehr gerne folgend aufzählen möchte:

  1. Es muss eine konsistente Strategie der digitalen Fabrik definiert werden, welche darauf aufbaut, den aktuellen Reifegrad zu verstehen. Dabei ist es elementar, dass Menschen genauso wichtig sind wie Technologien und dass sich auf Projekte konzentriert wird, die den größten Nutzen bieten.
  2. Es sollten erste Piloten erstellt werden, um einen Ansatz zu erlernen, welcher für das jeweilige Unternehmen funktioniert. Damit ist es möglich an speziellen Anwendungen den Nutzen praktisch darzustellen, um somit die Finanzierung eines größeren Rollouts zu sichern und die Belegschaft zu überzeugen.
  3. Es ist sinnvoll benötigte Funktionen zu definieren, um festzulegen, welche Fähigkeiten zur Optimierung des jeweiligen Produktionsprozesses notwendig sind.
  4. Jedes Unternehmen muss sowohl die Konnektivitätswerkzeuge und -systeme, welche Daten produzieren und kommunizieren, als auch die analytischen Werkzeuge beherrschen, die es zur Verbesserung von Effizienz und Qualität einsetzen.
  5. Bei der Transformation einer Fabrik hin zu einer digitalen Fabrik ist insbesondere der Einfluss auf die Mitarbeiter von entscheidender Bedeutung. Dies betrifft das Rekrutieren ausreichend qualifizierter Mitarbeiter genauso wie die Überzeugung sowie die Aus- und Weiterbildung von bestehenden Mitarbeitern. Die Kultivierung einer digitalen Umgebung kann dabei nur mit einer engagierten Führung erfolgen.

DER PROZESSMANAGER: Welches Vorgehen hat sich auf Basis Ihrer Erfahrungen bei T&O für eine erfolgreiche Einführung einer digitalen Fabrik bewährt?

Marek Borgstedt: Um optimal auf die Zukunft I4.0 vorbereitet zu sein bieten wir bei T&O 6 Kernleistungen im Rahmen unserer Beratungsdienstleitungen an. Wichtig ist in dem Kontext zu betonen, dass wir dabei die Beherrschung der Lean-Grundgedanken durchwegs als Basis allen Handelns betrachten.

Ein Kundenprojekt startet meist mit der Durchführung eines I4.0 Readiness-Check. Dort durchleuchten wir gemeinsam mit dem Kunden alle Bereiche und Prozesse. Das Ergebnis bildet die Grundlage zur Erarbeitung von Zielbild und Vision. Das Zielbild und die Vision erarbeiten wir in einem 2-tägigen Workshop zusammen mit dem Kunden. Danach geht es in den Projekten in die konkrete Umsetzung. In der Produktion heißt das meist die Herstellkosten zu optimieren.

Dabei unterstützen wir unsere Kunden bei der Konzeption und Projektierung von modernen Robotik- und Automatisierungslösungen bis hin Projektierung von neuen Fertigungstechnologien (z.B. 3D-Druck). Aber es geht nicht nur um die Optimierung des physischen Materialflusses, sondern auch um die Optimierung des Informationsflusses.

Dabei nutzen wir das Thema Process Mining oder Data Mining um auf Basis von Fakten automatisiert Wertstromprozesse und Bottlenecks zu analysieren und Problemdiagnosen durchzuführen.